Jede Zeit hat ihre Sprache, aber auch ihre sprachlichen und inhaltlichen Exzesse. Ein Blick auf die Coronasprache und ihre seltsamen Auswüchse.
Das aus dem Lateinischen entlehnte Wort „sozial“ hat keinerlei räumliche Dimension. Distanziere ich mich auf sozialer Ebene von anderen Menschen, dann bedeutet das nicht, dass ich eineinhalb Meter Abstand zwischen uns schaffe. Wenn ich mich sozial von jemandem distanziere, dann verliere ich den Bezug zu diesem Menschen, dann handle ich nicht mehr empathisch und mit „sozialem Gewissen“, dann stelle ich mein eigenes Interesse über das der anderen Person, dann handle ich asozial, vertiefe soziale Gegensätze, begebe mich in soziale Isolation und negiere die Idee vom Menschen als soziales Geschöpf.
Bitte distanziert Euch nicht sozial! Bitte distanziert Euch räumlich – und zwar um das Längenmaß von eineinhalb Meter. Aber bitte, rückt auf sozialer Ebene so eng zusammen, wie es nur irgend geht! Böse Zungen behaupten, dass die Einführung dieser sprachlichen Unmöglichkeit den Zweck verfolgt, uns auf den fortschreitenden Abbau des Sozialstaats einzustimmen. Aber böse Zunge sind eben Zungen, die Böses züngeln.
Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Günther hat es getan, die Junge Union Nordhorn hat es getan und sogar der Papst hat es getan: Die Coronakrise als Chance für irgendetwas zu bezeichnen, ist im besten Fall ein Anzeichen für zu heftige soziale Distanzierung, und zwar in dessen wahrer Bedeutung, im schlimmsten Fall ein Indiz für gnadenlose Dummheit. Denn wer in einer Krise, welche Tote fordert, eine Chance für irgendetwas sieht, der kann auch sagen, dass der Zweite Weltkrieg, mit den 6 Millionen vergasten Juden, den 27 Millionen russischen und 6 Millionen deutschen Opfern, die Chance für Deutschland lag, endlich eine Demokratie zu werden. Der kann auch sagen, dass es die spanische Grippe, mit all ihren bis zu 50 Millionen Toten gebraucht hat, um Edward Munchs „Selbstporträt mit Spanischer Grippe“ hervorzubringen. Der kann auch behaupten, dass die Chance in der Pest, die Entwicklung erster epidemiologischer Ansätze war. Wer in der Coronakrise Chancen sieht, distanziert sich von den Toten und den Darbenden.
Das ist alles Ochsenkacke. Nicht die Krise birgt Chancen in sich, sondern die Maßnahmen, die die Krise bewältigen sollen. Eine Krise beinhaltet lediglich Risiken (=Auswirkung von Unwissenheit). Maßnahmen aber, die wir neu entwickeln, die unser Verständnis von Technik, von Medizin, von unserem sozialen Miteinander erweitern, die uns als Menschheit vorwärtsbringen, diese sind Chancen geschwängert!
Hören wir nicht alle gern, dass wir wichtig sind und für das Funktionieren eines Systems unabdingbar, also relevant sind? Ursprünglich waren es nur die Banken, die „too big to fail“ und damit relevant für das Funktionieren unserer Realwirtschaft waren. Dann kam das Coronavirus und plötzlich waren auch Ärztinnen und Ärzte und alle Mitarbeitenden in Pflegeberufen systemrelevant. Der Grund dafür lag auf der Hand. Doch dann wurde das Klopapier knapp und die Gemüter hitzig. Also wurden prompt die Mitarbeitenden in den Supermärkten auch fürs System relevant erklärt. Und als die Gastronomen, Kleinkünstler, Musiker und Kinoveranstalter ihren nicht mehr auszugleichenden finanziellen Schaden geltend machten, wurden die auch systemrelevant.
Aber wenn alle relevant sind, wer ist denn dann noch irrelevant? Gibt es das überhaupt? Welcher Berufsstand behauptet von sich selbst, irrelevant fürs System zu sein? Wäre das nicht ein Symptom für Schizophrenie? Wäre schon irgendwie komisch, hörte man das jemanden von sich selbst sagen. Wenn es also recht unwahrscheinlich ist, dass jemand irrelevant ist, braucht es dann die inflationäre Verteilung des Attributs der Systemrelevanz?
Ich, für meinen Teil, bin gerne relevant für irgendein System und höre es am Liebsten von diesem System persönlich. Ein „Ich liebe Dich, mein Schatz.“ offenbart eine Relevanz, der keine Corona-Prämie und kein Gehalt Konkurrenz machen kann.
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