Meines Vaters Brief an mich

Was, hätte mein Vater mich gekannt? Was, hätte er mir einen letzten Brief geschrieben? Was stünde da drin?

Dir Sohn.

Was erwartest Du von Deinem Leben? Was hast Du als erstrebenswert, als wertvoll, als glorreich erkoren? Du bist jetzt nun einunddreißig Jahre alt und was hast Du vorzuweißen? Was hast Du wirklich geleistet und was gedenkst Du, noch wirklich nachhaltiges zu leisten? Wie gedenkst Du Deinen Keil in den Leib der Welt zu treiben, dass die Erinnerung nicht vergeht an Dich, wenn Dein Körper längst verfault ist?

Glaube mir! All das ist wichtig zu ergründen. Es ist wichtig zu begreifen und zu verstehen, denn Deine Ziele und Deine Wünsche, Hoffnungen, Deine Ängste und Deine Nöte sind Du. Sie machen Dich aus wie der Mörtel die Mauer. Hast Du Türen und Fenster zur Welt um Dich geschaffen oder lebst Du in einem Bunker aus Einsamkeit?

Ist es eine Frau? Sind es Kinder – das Konstrukt, das als Familie gesehen wird? Deine soziale Position als Vater, als Versorger – oder als gleichberechtigter Partner neben einer gleichberechtigten Frau? Wo siehst Du Dich? Als Führer und Verführer? Oder als Diskutant und Verwalter? Siehst Du den Zauber einer Liebe in der Jagd oder in der verlockenden Beute? Vielleicht aber dann doch in der Sicherheit nebeneinander zu gehen und in die gleiche Richtung zu sehen? Der Gejagte sieht zurück, der Jäger nach vorn. Auch Jäger und Gejagter blicken sich in die Augen, wie es so viele Liebende tagtäglich veranstalten.

Partner im Glück aber sehen beide nach vorne, denn sie wissen, der andere ist neben mir und schreitet genauso forsch voran. Ja nicht mal die Hände müssen sich dazu berühren – allein der Gedanke ist es, der Sicherheit gibt. Man nennt das Vertrauen und Vertrautheit.

Und dieser Keil? Wie gestaltest Du ein Leben, welches wertvoll genannt werden kann? Wie baust Du Dir Dein eigenes kleines Denkmal, welches Menschen zum Anhalten und Verweilen verführt, zum Sinnieren und sich Erinnern – an Dich? Ist das ein Ziel für Dich? Oder bevorzugst Du den Hasenbau, der immer nur eine Generation überlebt, sollte der Fuchs nicht dazwischen kommen? Ein in die stille Erde getriebener, blinder Gang, von unachtsamen Füßen und spielenden Kindern zum Einsturz gebracht.

Ist es in Deinen Augen notwendig „erinnert zu werden“? Was macht es aus? Und wie lange überhaupt? Eine Generation? Vielleicht zwei? Vielleicht auf tausend Jahre? Möchtest Du in Geschichtsbüchern stehen oder lieber in den Herzen einiger weniger Menschen weiterleben? Wo ist außerdem die Grenze zwischen Popularität und Beliebtheit, zwischen „gekannt werden“ und „beliebt sein“ … oder noch viel intimer „geliebt sein“?

Dies alles sind Fragen, die Du Dir nicht stellen musst, denn der von Dir eingeschlagene Weg wird die Antworten von selbst bringen. Doch ist es nicht besser zu begreifen? Schwimmen wir in einem Strom oder sitzen wir eher in Booten, deren Steuer wird fest in der Hand halten?

Dir Sohn!

Mich gibt es nicht, das weißt Du … aber Dich gibt es, leibhaftig und wahrhaftig. Mach Dir also Gedanken, ergründe Dich und Deine Umwelt. Lebe nicht nur, sondern erlebe. Sei kein Schwimmer – sei ein Lenker. Sei das Steuer und der Steuermann zugleich, halte das Boot bewusst und frei von Sorgen. Blicke in die Zukunft, als wäre sie ein Horizont, dessen Sonnenauf- und Sonnenuntergang Dir vor Schönheit die Sprache verschlägt. Teile diesen Blick mit anderen, zeige ihnen die Schönheit Deiner Welt, denn Schönheit liegt stehts in der Wahrnehmung verborgen.

Und vielleicht, eines Tages, wenn Du immer recht gesteuert hast, wenn Du unendliche Untiefen und Stromschnellen überwunden hast und die von Treibholz und anderen Booten geschlagenen Lecks geflickt hast, vielleicht wird dann ein anderes Boot an Deines gebunden werden und Ihr zwei beide blickt gemeinsam dann gen Horizont, nicht nach hinten – nach vorne, verbunden im Geiste und im Herzen.

Dein Leben soll eine Reise sein, das wünsche ich Dir inständig. Diese Reise soll die Welt erkunden und umrunden. Lebe und genieße. Und halte fest, was Du liebst. Denn abgetriebene Boote beginnen schnell außer Sicht zu geraten. Das Meer ist erbarmungslos!

Blog, Kunstscheiße | 05.10.2014 | 260 Views

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